»Ich habe heute wieder nicht geweint«, teilt Danny etwas betroffen der Runde mit – und fragt sich, wann es ihn denn nun endlich treffe. Der Schmerz, die Betroffenheit, die Last der Geschichte, die ihm und den anderen aus der Gruppe doch die Tränen in die Augen treiben müsste. Sie sind hierher gekommen wie viele tausende israelische Jugendliche vor ihnen: Junge Leute, die nach Ende der Schulzeit und vor Ableistung des Wehrdienstes die obligatorische Reise nach Polen absolvieren, zu den Orten früheren Schreckens, den Mahnmalen des Holocausts. Manche von ihnen haben auch ganz persönliche, familiäre Bezüge: So wie Omer Frischmann, von den anderen ›Frisch‹ genannt. Sein Opa Yosef begleitet die Jugendlichen in seine frühere Heimat. Er will und soll ihnen als Zeitzeuge von damals berichten, von seinen Erfahrungen an eine schlimme Zeit. Aber Yosef beginnt mit den Erinnerungen an Anna, in die er damals verliebt war, doch nicht recht wusste, wie er das zeigen sollte. Fast ebenso geht es heute ›Frisch‹ mit seiner Zuneigung zu Nitzan. Sie möchte ihre Gedanken und Gefühle, die sie beim Gang durch das KZ hatte, nicht mit den anderen teilen. Schreiend verlässt sie den Gesprächskreis der Gruppe. Zu vieles scheint auf dieser Reise normiert und programmiert. Routine mit Fixpunkten und kalkulierten Emotionen. Was aber macht es mit einem, wenn man in Maidanek vor den Bergen von Schuhen der Häftlinge steht? Wenn man es wagt, so wie Nitzan, einen der Schuhe aus dem Gitter herauszuziehen und mitzunehmen? Was macht es mit einem, wenn man sich, so wie ›Frisch‹, von der Gruppe trennt und eigentlich unerlaubt mit polnischen Bürgern zusammentrifft? »Und wie war Auschwitz?«, wird er später von Anna beim Tanzen gefragt. »Ich war nur fünf Minuten dort«, lautet seine kurze Antwort.
Erinnerung ohne Rituale: Nur so bleibt Geschichte lebendig!
Fotos: Natalia Łączyńska / farbfilm Verleih, Berlin
Delegation
Ha’Mishlahat
Israel, Polen, Deutschland 2023 / Spielfilm / 99 Minuten / 8.-13. JahrgangsstufeInhalt
Themen
Holocaust | Shoah | Antisemitismus | Nationalsozialismus | Gedenkstätten | Zeitzeugen | Humanität | Israel | Jüdisches Leben | Polen | Auschwitz | Familien- und Generationsbeziehungen | Familiengeschichte | Herkunft | Identität | Erinnerungskultur | Geschichtskultur | historische Quellen | Werte | Konventionen | Toleranz | Vorurteile | Zivilcourage
Fächer
Politische Bildung | L-E-R | Geschichte | Deutsch | Gesellschaftswissenschaften | fächerübergreifend
»Auf der einen Seite ist es ein Coming-of-Age-Film, auf der anderen Seite ein Drama, das nach dem großen Vorbild doch kein Holocaust-Film sein möchte. Zwischen schulischem Alltag und dem Abenteuer einer Klassenfahrt scheint alles von der gegenwärtigen Motivation der Jugendlichen gesteuert – und doch sind die Analogien zur Geschichte deutlich. Als Frischi sich von der israelischen Gruppe entfernt, spielt es symbolisch auf die jüdische Flucht, das Separieren von dem vertrauten Umfeld und einer potenziellen Bedrohung des Fremden an. Besonders auffällig ist hier auch der Schuh (›in ihren Schuhen stecken‹), der noch einmal von einem KZ in das nächste wandern wird. Eine moderne Reise nach Jerusalem mit der Suche nach dem eigenen Platz im Leben und Erfahrungen, die nah am (israelischen) Leben verwurzelt sind.«
Tina Waldeck, Resilienzfilm, Frankfurt/M.
»Keiner der Jugendlichen möchte als gefühllos dastehen. Doch unterschiedliche Temperamente zeitigen unterschiedliche Reaktionen auf die unvorstellbaren Gräuel, mit denen sie konfrontiert werden. Manche können einfach weinen, andere reagieren auf introvertiertere Weise. Nicht zuletzt führt das zu Missverständnissen, Animositäten, aber auch zu Alleingängen. Zwischendurch muss man die Last der Geschichte einfach auch einmal verdrängen. Im Reisebus wird gesungen, gelacht und gelästert. Im Hotel erobert man fremde Zimmer und feiert Partys innerhalb und außerhalb der Unterkünfte, die umso mehr Spaß machen, je verbotener sie sind. Bleibt dabei genügend Zeit für Nachdenklichkeit und Besinnung?«
Kira Taszman, filmdienst.de, Bonn
Im Film sagt ein Schüler, dass ihn die Erlebnisse mental bereit gemacht haben, Israel auch in Kampfeinsätzen zu verteidigen.
»Teenager zu sein bedeutet, zu etwas dazugehören zu wollen, das größer ist als man selbst. Die Gedenkorte, die Gedenklieder, die nationalen Symbole – man baut eine bleibende Verbindung dazu auf. Mein Land ist mir unter die Haut gegangen, als ich damals in Polen war. Aber ich wurde nie gefragt, ob ich mein Land unter meine Haut lassen möchte.«
aus einem Interview, das Jan-Philipp Kohlmann mit dem Regisseur Asaf Saban führte, fluter.de, Bonn
»Für mich gehörte dieser Film zu meinen Top 3 aller Filme, die ich auf der Berlinale gesehen habe. Ich hatte keine Ahnung von diesen Jugenddelegationen, die nach Polen reisen, um sich dessen, was ihre Großeltern erlebt haben, bewusst zu werden. Ich fand, dass die Qualität des Spiels und des Films im Allgemeinen tadellos war. Und da ich ungefähr das Alter der Figuren in der Geschichte hatte, dachte ich, dass ihre Suche nach sich selbst wirklich mit dem übereinstimmte, was ich erlebe. Auch wenn diese Jugendlichen Israelis und Juden bzw. Jüdinnen sind, kann alles, was sie erleben, von Tausenden von Jugendlichen auf der ganzen Welt nachvollzogen werden. Ich denke, das ist wirklich einer der stärksten Punkte dieses Films.«
Maya Chesnay (Collège Maisonneuve Montréal) aus ihrem Berlinale-Bericht 2023, Übersetzung: Webredaktion Goethe-Institut Montréal
»Asaf Saban spannt einen subtilen, poetisch-romantischen Bogen, wenn seine Hauptfigur Frisch jemanden kennenlernt, der Anna heißt. Eine Referenz auf die Erinnerung seines Großvaters und ein Schluss für das Ungesagte. Es ist die Übertragung einer Geschichte, einer Erinnerung – wie es ja auch die Reise zu den Gedenkorten ist. Der Film ... schafft es, verschiedene Stimmungen auf geschickte Weise aufeinander abzustimmen. Alles wirkt wie aus einem Guss. Das gelingt unter anderem durch den Einsatz von Musik und gut gesetzten Schnitten. Wie bei den Geschichten des Überlebenden wird auch hier oft ein Stück weggelassen. Die Zuschauer müssen hier auch selbst mitdenken.«
Simon Zimmermann, film-rezensionen.de, München
»Fiction films don’t have the same leeway as documentaries. As powerful as a scene could be, the filmmakers were not allowed to film at the Auschwitz-Birkenau Memorial and Museum. What a shame. Here’s what Saban has to say according to the film’s production notes: ›I think it’s mostly part of the current political power-game about who controls the narrative. It’s a pity, because these locations, these unforgettable images carry so much power. When you are there, it feels like you are entering a whole new territory: you are not allowed to smoke, you have to go through strict security measures. We had many challenges regarding what we were allowed to show. I found it both fascinating and frustrating‹.«
Danielle Solzman, solzyatthemovies.com, Chicago
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