»Wenn ich groß bin, will ich auch mal in nem Wolkenkratzer wohnen.« Verträumt schaut Tobi aus dem Autofenster auf die kahlen Plattenbau-Fronten in Hoyerswerda. Die Großeltern sind mit ihm und seinem älteren Bruder Philipp in die Stadt gefahren. Im Einkaufszentrum essen sie Pommes und Burger; im Zeitungsladen lässt Tobi aus einem »Romy«-Heftchen ein Silberkettchen mitgehen, vielleicht für Elisabeth. Es war ein schöner Ausflug, eine Abwechslung. Nun geht es zurück nach Hause, in die Oberlausitz. Blühende Landschaften, wenn sie an gelb leuchtenden Rapsfeldern vorbeikommen. Ansonsten aber ist der Alltag hier eher trist, die Stimmung gedrückt im Jahre 2006. Die Eltern bauen schon ewig am Einfamilienhäuschen mit Garten und noch immer ist es nicht fertig. Das Geld ist knapp, reicht weder für den Urlaub noch für ein neues Auto. Der Vater hat nach der Wende seine Arbeit im Waggonbau verloren, dann den Montagejob in Bayern. Jetzt schreibt er erfolglos Bewerbungen. Die Mutter rackert sich ab als Krankenschwester. Die Söhne sind mehr oder weniger sich selbst überlassen. Sie beobachten genau, was die Erwachsenen tun und lassen, worüber sie reden, was sie verschweigen. In der Schule sehen sie, wer das Sagen hat und die Richtung vorgibt. »Sieg heil!«, brüllen ein paar Kerle aus dem Fenster des VW-Golf, während der Hausmeister auf dem Hof versucht, ein Hakenkreuz auf einem Stein zu überdecken. Bald wird Philipp ihre Gemeinschaft suchen und die fälligen Bewährungsproben nicht ablehnen können. Es sind keine pubertären Scherze mehr. Auch Tobi wird gefragt, ob er demnächst nicht mal mitkommen wolle. »Warum nicht?«, antwortet er. Fast zehn Jahre später wird er als Elektrikerlehrling in seiner alten Schule, nun eine Ruine, die Leitungen wieder anklemmen. »Das ist eine Schule, kein Flüchtlingsheim«, steht an einer Wand geschrieben.
Ein Film, der unter die Haut geht. Sensibel erzählt, beeindruckend gespielt.
»Der Film hat uns auf eine besondere Art mitgerissen. Wir empfehlen diesen berührenden Film mit aktuell politischem Inhalt ab 13 Jahren.«
FBW-Jugend-Filmjury
Das Buch zum Film
Lukas Rietzschel. Mit der Faust in die Welt schlagen
Ullstein Taschenbuch, Berlin 2019
320 Seiten, broschiert, ISBN 9783548061030, 14,99 €
Der Roman wurde mehrfach für die Bühne adaptiert und gehört in einigen Bundesländern zur Schulliteratur. Lukas Rietzschel wurde 2019 mit dem Gellert-Preis, 2022 mit dem Sächsischen Literaturpreis und 2023 mit dem Literaturpreis Text & Sprache ausgezeichnet.
»Gerade dank seiner Eigenständigkeit kann der Film den Deutschunterricht bereichern. Aufgrund der inhaltlichen Abweichungen ersetzt er keine selbstständige Lektüre – und eignet sich neben dem reinen Vergleich mit der literarischen Vorlage auch als autarkes Werk für die Film- und Medienbildung.«
Tina Rausch, Ernst Klett Sprachen, Stuttgart
Fotos: Across Nations Filmverleih, Stuttgart/Berlin
»›Mit der Faust in die Welt schlagen‹ ist ein mehr als beachtliches Kinodebüt der Regisseurin Constanze Klaue, die auch das Buch verfasst hat. Als Vorlage diente ihr der 2018 veröffentlichte Roman von Lukas Rietzschel, mit dem der in Ostsachsen aufgewachsene Autor zum ›Ostbeauftragten der deutschen Gegenwartsliteratur‹ wurde, wie er einmal selbstironisch sagte. Klaue übersetzt die knappe Sprache Rietzschels in schwebende Bilder, die psychologischen und sozialen Realismus verbinden. Der Film, der auf der Berlinale seine Premiere feierte, ist ein feinfühliges Coming-of-Age- und subtiles Gesellschaftspanorama. Weder thesenüberfrachtet noch belehrungsfixiert, ist diese ostdeutsche Éducation sentimentale unbedingt sehenswert.«
Jakob Hayner, Welt, Berlin
»›Mit der Faust in die Welt schlagen‹ reiht sich ein in die Legion der Ost-Erklärversuche – und ist doch anders und besonders. Das liegt an dem unglaublichen Gespür der 1985 in Ost-Berlin geborenen Regisseurin Constanze Klaue für Stimmungen und Tonlagen, mit der sie das Lebensgefühl in den ›neuen Ländern‹ in den Nullerjahren präzise erfasst und beschreibt […] Entschuldigen will der Film nichts, als dichte Beschreibung einer brüchigen Gesellschaft bleibt er lange im Gedächtnis haften.«
Frank Schirrmeister, nd, Berlin
»Einfache Korrelationen, wie sie vor allem aber nicht nur Beobachter, Soziologen und Andere da gerne ziehen, gibt es da nicht: Nicht jeder, der als Teenager ziellos durch die ostdeutsche Provinz taumelt, wird später AfD wählen. Gerade der neun Jahre später spielende Epilog zeigt dies mehr als deutlich und lässt ›Mit der Faust in die Welt schlagen‹ endgültig zu einem der gelungensten Filme über Leben und Aufwachsen in der Provinz werden, die es in den letzten Jahren im deutschen Film zu sehen gab.«
Michael Meyns, programmkino.de, Berlin
»›Mit der Faust in die Welt schlagen‹ ist ein Film über das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, über Vernachlässigung und die emotionale Verwahrlosung, die daraus resultiert. Vor allem aber ist es ein Film, der gängige Klischees über den Rechtsruck im Osten Deutschlands auf den Prüfstand stellt. Wer den Eltern keine Chance gibt, so könnte man die Botschaft zusammenfassen, verrät die Kinder gleich mit.«
Carsten Beyer, radio3, Potsdam/Berlin
»Klaue gelingt bei alledem das Kunststück, die Schuld dafür, dass zuerst Philipp und dann Tobi sich einer rechten Clique anschließen, nicht allein den Erwachsenen oder den Nachwendezerrüttungen zuzuschreiben. In ihrem atmosphärisch so dichten Erzählen hat der Hintergrund, vor dem sich das alles ereignet, historische Tiefe. Die Wut des Vaters auf die Polen, die ihm vermeintlich die Arbeit wegnehmen, der Busfahrer und seine antisemitischen Witze, die Sehnsucht der Jungs, zu den Stärkeren gehören zu wollen, die Hilflosigkeit und Inkompetenz der Lehrer*innen – es kommt vieles zusammen. Nichts davon ist zwangsläufig.«
Barbara Schweizerhof, taz berlin
»›Mit der Faust in die Welt schlagen‹ ist eine scharfe Milieustudie, die so verzweifelt darauf aus ist, Antworten zu finden und zu liefern, dass sie quasi durch die Hintertür eine Schicksalhaftigkeit einlässt, die das Problem am Ende doch zu stark vereinfacht. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen bietet der sehenswert inszenierte Film viel Anlass zum Nachdenken und Diskutieren.«
Len Klapdor, kinder-jugend-filmportal.de, Remscheid
»Während die Kamera die Weite der Natur einfängt (tolle Bilder: Florian Brückner), wird die Welt für die Brüder immer enger. Radikalisierung ist eine Entscheidung. Man kann Ja sagen oder nicht. Diese Phase ist es, auf der der Fokus des Films liegt: Was passiert, wie es dazu kommt. Am Schluss springt der Film nach vorn, blickt darauf, was geworden ist. Einer der Brüder hat den Absprung geschafft, der andere nicht […] Es ist Jahrmarkt, das Riesenrad dreht sich. In der Entfernung brennt eine Flüchtlingseinrichtung. Man hat Gänsehaut, weil das letzte Bild so erschütternd ist, aber eine fast poetische Schönheit besitzt. Ein besonderer Film ist Constanze Klaue gelungen, eine Erfahrung, die rüttelt und schüttelt. Die Faust, die in die Welt schlägt, trifft ihr Ziel. Mitten in die Magengrube.«
Thomas Schultze, SPOT media & film, München
»Industrieller Niedergang (hier Schließen eines Eisenbahnwerks) und der tägliche Kampf ums Geld sind die osttypischen Probleme jener Zeit. Die zunehmende Orientierung der Jugendlichen nach rechts ist dadurch sicher nicht schlüssig zu erklären. Das Fehlen anderer Angebote und vorgelebter Werte sind aber immer auch ein Risiko für extreme Entwicklungen. Das zeigen Roman wie Film, auch wenn hier die Neonazis ein wenig wie frisch vom Himmel gefallen wirken. Dennoch bietet der Film eine gute Gesprächsgrundlage zur Aufarbeitung in Ost wie West.«
Stefan Bock, kultura-extra.de, Berlin
»Klaue, selbst 1985 geboren, in Ost-Berlin und Brandenburg aufgewachsen und somit ein echtes Nachwendekind, weiß, was sie da dreht. Sie hat viele ihrer Kindheits- und Jugenderfahrungen einfließen lassen, teilweise filmte sie an den Orten ihrer eigenen Vergangenheit. Dabei ist ihr wichtig zu zeigen, dass die Rechtswerdung des männlichen Jugendlichen in Ostdeutschland trotz widriger Umstände nicht zwangsläufig sein musste – auch Philipp nimmt eine andere Entwicklung als Tobi. Groß gegengesteuert hat die Politik aber auch nicht. Im Gegenteil.«
Jürgen Kiontke, filmgazette.de, Bielefeld
»Stets präsent ist die Kluft zwischen dem Wunsch nach idyllischem Familienleben und der bitteren Realität. Gerade am Anfang spürt man die Wärme, die sich alle Beteiligten wünschen, was es umso härter macht, wenn sie später stetig abnimmt. Einen weiteren Kontrast finden Klaue und Kameramann Florian Brückner, wenn sie die Örtlichkeiten in prägnanten Bildern einfangen: blühende Natur mit baufälligen Häusern und Plattenbau mittendrin, malerische Wiesen und dazwischen eine marode Straße. Dieses vollkommen wertfrei eingefangene Miteinander von Verfall und Idylle beschreibt die Ambivalenz Ostdeutschlands vielleicht am besten.«
Jannek Suhr, epd film, Frankfurt/Main
»Constanze Klaue und Lukas Rietzschel leiten nichts her. Sie setzen aus kleinen Beobachtungen etwas zusammen, was bei fiktiven Figuren so etwas wie Identität ergibt. Wie weit diese Identität auf Abgrenzungen und wie weit sie auf Annäherungen beruht, das ergibt ein Spannungsmoment, das dem subtil erzählten Film möglichst große Aufmerksamkeit bringen sollte.«
Bert Rebhandl, Frankfurter Allgemeine Zeitung